Ins Netz sterben

Wenn der Herbst kommt, ist heutzutage der Winter nicht mehr weit. Das Sterben kommt jedoch auch weiterhin bestenfalls nach dem Abschiednehmen. Solange wir noch nicht als individuelle Bots in der digitalen Welt oder als androide Roboter in der analogen Welt ewig weiterleben können, solange das ewige Leben im Science Fiction noch auf sich warten lässt, solange sollten wir uns wohl noch mit dem Sterben im Internetzeitalter befassen. Apropos Sterben, Eltern haben dafür zu sorgen, dass ihre Nachkommen möglichst direkt in die digitale Welt hineingeboren werden. Die heute Erwachsenen legen für ihre Brut schon Accounts in sozialen Netzwerken an, bevor sie überhaupt geboren werden. Da ja ein Fötus noch kein Selfie von sich machen kann, müssen hier Gynäkologen und werdende Eltern gewissenhaft die Dokumentation der ersten Lebenszeichen übernehmen. Nach den Ultraschallbildern der sich stets bis aufs Ei gleichenden Föten wird wohl bald auch die künstliche Befruchtung live und in Farbe aus der Petrischale übertragen. Dank Biotechnologie können wir bald am digitalen Reißbrett Avatare erschaffen, nach deren Ebenbild unsere Nachhut gezeugt, ausgetragen und großgezogen wird. Den Lebensanfang hätten wir damit schon einmal schön unter Kontrolle. Ins Netz sterben weiterlesen

V.T. – Virtual Therapy

Bald werden wir Psychotherapeuten wohl auch von künstlicher Intelligenz ersetzt. Warum sollten es Bots nicht besser können als wir? Das mit den Gefühlen wird wohl überbewertet. Die müssen wir manchmal selbst simulieren, wenn es uns gerade mal an Empathie mangelt, weil privat nicht alles rund läuft. Und wenn die artifizielle Intelligentsia dann in die Computergehirne von Robotern umzieht, die vielleicht noch biotechnlogisch mit Haut und Haaren überzogen sind, dann haben auch wir Seelenklempner ausgedient. Vielleicht hat bald ohenhin jeder seinen Androiden daheim, der wahlweise alles für uns sein kann, nicht allein FreundIn, PartnerIn und LiebhaberIn, sondern eben auch PsychotherapeutIn. Die Bindung an so eine eierlegende Wollmilchsau des Internetzeitalers dürfte sich als ziemlich eng erweisen. V.T. – Virtual Therapy weiterlesen

Wirklichkeit Spielen, in echt jetzt

Bin immer noch etwas berauscht, von der Gamescom im Allgemeinen und einem Virtual-Reality-Trip im Besonderen. Das Spiel war ziemlich simpel, aber das Erleben durch die VR-Brille atemberaubend, aufregend und schön. Immer wenn ich davon erzähle, bekomme ich eine Gänsehaut. Und ich hatte dieser Tage ständig das Bedürfnis von meinem Rausch zu erzählen, während ich auf der Messe eine Online-Ambulanz für internetsüchtige Menschen vorgestellt habe, die süchtig nach dem Leben in virtuellen Welten sind. Mag pathetisch klingen, aber ich habe in die Zukunft gesehen, allerdings auch in die der Internetabhängigkeit. Wirklichkeit Spielen, in echt jetzt weiterlesen

Spielverderben

Passend zur Gamescom steigt die Zahl der abhängigen Gamer in unserer Ambulanz mal wieder an. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neuer Patient wegen einer Computerspielsucht oder dessen verzweifelte Angehörige bei uns vorstellig werden. Da kann man schon mal wütend werden auf das Gaming und die Industrie, die damit ein Milliardengeschäft macht. – Nur dass keine Missverständnisse aufkommen, ich habe grundsätzlich nichts gegen Computerspiele. Bin selbst schon mit ihnen groß geworden: Pong, Atari, C64, you name it. Um auf dem Stand zu bleiben, spiele ich auch heute noch, mal gezielt und mal nur so zum Spaß. Mein Verständnis für den Reiz der Spiele kommt mit Pokémon GO allerdings gerade an seine Grenzen, wenn ich vor die Tür gehe und erwachsene Menschen dabei beobachte, wie sie im Straßenverkehr und in Parks virtuelle Monster fangen. Das ist doch eine infantile Mischung aus Fangen Spielen und Panini-Bildchen Sammeln. Längst haben sich im Zusammenhang mit solchen Smartphone-Spielchen Unfälle mit lebensgefährlichen und sogar tödlichen Folgen ereignet. Spielverderben weiterlesen

Tinder Dir (K)eine(n)

Melde mich aus dem abgeblasenen Sommerloch mit einem unpolitischen Thema zurück. Sexualität geht immer. Immerhin beziehe ich mich auf eine US-amerikanische Studie, die darauf hindeutet, dass junge Erwachsene immer weniger Sex haben. (Das dürfte noch nichts damit zu tun haben, dass mit den Obamas so oder so nun erst einmal jeglicher jugendliche Sexappeal aus dem Weißen Haus ausziehen wird.) Es wurde die Frage augefworfen, ob nicht das Rendez-Vous im Zeitalter seiner technologischen Reproduzierbarkeit gerade durch den Einsatz von Dating-Apps in seiner letzten sexuellen Konsequenz eher behindert als gefördert wird. Der Begriff Disruption gewinnt in diesem Geschäftsfeld eine ziemlich ambivalente Dimension. Beim Thema Sex scheinen die Algorhythmen jedenfalls noch nicht flächendeckend zu erotischen Eruptionen zu führen. Dass die Menschen durch die digitale Kuppelei zwar weniger, aber dafür aber besseren Sex haben, erscheint mir als eher unwahrscheinlich. Tinder Dir (K)eine(n) weiterlesen

Gute Wut

Ich glaube es war unser SoWi-Lehrer, der uns beibrachte, dass Große Koalitionen regelhaft eine Gefahr für Demokratien darstellen, weil sie auf längere Sicht radikalen Kräften Vorschub leisten, im Zweifelsfall Faschisten. Für mich war das so etwas wie ein Naturgesetz, weshalb mich die Machtübernahme der GroKo von SPD und CDU/CSU vor einem gefühlten Jahrzehnt beunruhigte. Eine Weile konnte ich das verdrängen, aber mehr denn je muss ich nun wieder an dieses ungeschriebene Gesetz denken. Das fängt schon bei ganz einfachen Themen an, wie zum Beispiel bei der Suche nach einem Nachfolger für Herrn Gauck.  Gute Wut weiterlesen

Wir gehören zu Eurem Team

Schon vor der Nachricht über den Anschlag von Orlando schwand meine Vorfreude auf das erste Spiel der deutschen Nationalmannschaft. Habe keine Lust auf die zweite Halbzeit und das Bedürfnis zu schreiben. Nachdem ständig von drohendem IS-Terror die Rede war, gehen nun die Bilder von Schlachten zwischen den Hooligans um die Welt, darunter gewaltbereite Neonazis aus Deutschland. – Islamisten und Rechtsradikale haben einiges miteinander gemein, nicht zuletzt den Hass auf Lesben und Schwule. Über das fürchterliche Attentat auf den Nachtclub in den USA, bei dem mindestens 50 homosexuelle und transsexuelle Menschen getötet wurden, werden sich weltweit viele Millionen Menschen freuen. Das gilt nicht nur in Ländern, wo Menschen wegen ihrer gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung immer noch gefoltert und hingerichtet werden, sondern auch hier in Deutschland.

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F-Worte wie Facebook oder Faschismus

Von der Tageszeitung, die ich lese, verspreche ich mir vor allem, dass Sie mich über die wichtigsten Ereignisse in der Welt informiert und dass sie dabei weitgehend unabhängig von politischer Gesinnung eine sinnvolle Auswahl trifft. Wenngleich ihr das meinem Eindruck nach zumeist gelingt und ich mich in den Kommentaren in meiner eigenen politischen Haltung mal wiederfinde und mal herausgefordert fühle, ärgere ich mich bisweilen über sie, zum Beispiel über unnötig reißerische Überschriften oder schlechte Rezensionen. Manchmal denke ich, dass ich mich mehr an ihr reiben müsste, dass ich zu konform mit ihr gehe. Wenn ich unterwegs bin, lese ich ganz bewusst andere Zeitungen, gerne auch aus anderen Ländern. In der Tageszeitung meiner Wahl erscheint wöchentlich eine Beilage einer amerikanischen Tageszeitung. Darin las ich heute zwei Artikel, die erst auf den zweiten Blick etwas miteinander zu tun haben. Es ging um Facebook und Faschismus. F-Worte wie Facebook oder Faschismus weiterlesen

Auf die Straße mit Euch

Letzte Woche bekam ich über das Netzwerk des Projekts Ankommen folgende Nachricht: „Achtung: Gerüchten zufolge soll heute um 19:00 Uhr am „Kleinen Borsigplatz“ eine Nazikundgebung stattfinden.“ Es gehört offensichtlich zum Alltag von Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen, diese regelmäßig vor kleineren und größeren Aufläufen von Neonazis zu warnen. Das ist Alltag in diesem Land, Alltag in dieser Stadt. Wir mögen sagen, dass wir uns niemals daran gewöhnen wollen und werden, aber die wenigen Geflüchteten, die ich kenne, scheinen sich bereits darauf eingesellt zu haben. Zunächst habe ich das Bedürfnis verspürt, meine Heimatstadt Dortmund in diesem Zusammenhang nicht zu nennen. Das aber wäre verlogen. Wenn hier überhaupt einer ein Nestbeschmutzer ist, dann doch dieses Pack. – Vor Scham und Wut wäre ich im letzten Jahr am liebsten versunken, als vor unserer Haustür eine kleine Nazikundgebung abgehalten wurde. Es waren ungefähr doppelt so viele Polizisten und dreimal so viele Gegendemonstranten da, denen wir uns anschlossen. Aber es war schlimm, so nah dran zu sein. Auf die Straße mit Euch weiterlesen