Während eines mittlerweile zwanzig Jahre zurückliegenden medizinischen Praktikums in einer amerikanischen Klinik fiel mir diese Unart zum ersten Mal auf. Während der Visite hielten alle Ärztinnen und Ärzte weiße Pappbecher mit einem Plastikdeckel in der Hand, aus dessen Fortsatz sie unentwegt Kaffee in sich hineinschütteten. Schnabeltassen waren mir erstmals während eines Pflegepraktikums fünf Jahre zuvor begegnet. Heute muss ich wieder daran denken, wenn ich versuche Studenten oder Patienten klar zu machen, dass ich es unangemessen finde, während der Seminare und Therapiesitzungen zu trinken oder zu essen. Ich versuche dann mit Humor auf die wissenschaftliche Erkenntnis hinzuweisen, dass man tatsächlich ein, zwei Stunden ohne Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr überleben kann. Dass man abends auch ohne eine Flasche Bier in der Hand U-Bahn fahren kann, behalte ich vorsichtshalber für mich.

Die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, die wir Menschen zuletzt als Kinder und Urvölker schick fanden, ist wieder ganz groß in Mode, und das nicht nur, was unser leibliches sondern auch was unser seelisches Wohl angeht. Die Smartphones machen es möglich. Jede Frage wird gleich beantwortet, jeder Kontakt sofort hergestellt, jedes Objekt der Begierde bestellt, sei es eine Ware oder ein Wesen. So zeigt uns das Matching von Apps wie Tinder und Grinder auch beim Einkaufen an, ob nicht hinter der nächsten Regalwand auch das nächste erotische Abenteuer auf uns wartet. Kein Wunder also, dass wir alle immer mehr zu Smartphone-Junkies werden.

Die mobilen Endgeräte erfüllen uns fast jedes Bedürfnis. Und weil das Konsortium von Google, Facebook und Amazon unsere Wünsche längst von unseren Lippen oder besser gesagt von unserem Tippen ablesen kann, kommen sie uns mit der Erfüllung und Entwicklung unserer Bedürfnislage immer weiter entgegen. Wer von der Hand in den Mund lebt, muss sich über das Bewusstsein keine Gedanken mehr machen. Und dass das Aufschieben von Bedürfnissen eine Voraussetzung für Kulturbildung ist, wie uns schon der gute alte Sigmund Freud erklärt hat, ist doch ein alter Hut. Die digitale Kultur wird heute schon alles richten, glauben wir.

Das dies am Ende infantil ist, scheint kaum jemanden aufzufallen. Erwachsenwerden bedeutet unter anderem die Fähigkeit zu entwickeln, Bedürfnisse aufzuschieben, zu transformieren und zu sublimieren. Ein Baby braucht unmittelbare Wärme, Geborgenheit und Sicherheit der Eltern und möglichst auch die Milch aus der Brust der Mutter. Der Umgang mit Schnabelbechern und Smartphones in unserer Gesellschaft vermittelt den Eindruck, dass wir gerade auf eine babyhafte orale Stufe zurückfallen. Oder fallen wir psychologisch gesehen gerade sogar in ein vorgeburtliches Stadium zurück. Der Umgang mit unseren Smartphones, die uns über die sozialen Netzwerke ständig mit allem und jedem ständig verbinden und versorgen, sind sie nicht so etwas wie digitale Nabelschnüre.

Im Alter regredieren wir Menschen mitunter wieder auf kindliche Seinszustände. Am Anfang des Lebens sind wir per Nabelschnur im Mutterleib und am Ende mit Infusionsschläuchen und Elektrokabeln an die leibliche Welt angeschlossen. Smartphones überbrücken die Zeit dazwischen. An Schnabelbecher haben wir uns alle längst frühzeitig gewöhnt. Und dass ich selbst längst ein Kaffee-Junkie bin, fällt bis dahin niemandem auf.

 

Bert te Wildt©