Im Fitnessstudio geht es ja nicht zuletzt um die Steigerung der eigenen körperlichen Attraktivität, die man im Zweifelsfall direkt vor Ort auf die Probe stellen kann. Für die Motivation kann es hilfreich sein, sich auf dem Stepper für den Bildschirm mit den Musikvideos von schönen Menschen zu entscheiden. Jennifer Lopez ist genauso alt wie ich, sieht aber in ihrem neuen Video wesentlich jünger und besser aus. In dem Lied „Bin nicht Deine Mutter“ beschwert sie sich offensichtlich bei einem Partner beziehungsweise dem Mann und für sich, dass dieser von ihr erwartet, für sie zu kochen und zu waschen. Visuell dekliniert sie dabei alle möglichen Frauenklischees durch, wobei sie unter anderem auch als Hausfrau, Amazone, Fabrikarbeitern und Karrierefrau noch ziemlich sexy daherkommt. Irgendwie soll es dabei wohl um Emanzipation gehen. Die Botschaft könnte ungefähr lauten: Frau darf alles Mögliche sein, nur nicht unsexy. Oder: Lasst mich in Ruhe mit langweiligen Machos, die mich in irgendwelche Rollenklischees zwängen, nur weil ich sexy bin.

Danach lief das Video von Meghan Trainor, im Rahmen diese noch etwas deutlicher „NO“ singt. Sie ist weniger als halb so alt wie J-Lo und sieht ungefähr so aus wie Paris Hilton aussehen würde, wenn sich diese ausreichend ernähren würde. In dem Lied „NO“ geht es darum, Männern bei Bedarf klar und deutlich „Nein“ zu sagen. Dabei sehen die Dame und die sie begleitenden Tänzerinnen ebenfalls sehr sexy aus. Die Damen sich in dessousartigen Outfits und netzbestrumpften Extremitäten in Nahaufnahme vor der Kamera, sodass man bisweilen nicht erkennt, mit welchem Körperteil man es gerade zu tun hat. Frau Trainor empfiehlt dabei den Frauen mehrfach, sich die Lippen zu befeuchten, bevor sie den Männern mit einem klaren „Nein“ den Laufpass geben. – Das lässt an die Debatte um ein neues Sexualstrafrecht denken. Möge ein „Nein“ doch bitteschön auch wirklich für alle und im Zweifelsfall auch für Richter „Nein“ bedeuten.

Kurz zuvor kam auf einem anderen Kanal die Nachricht, dass in Brasilien eine Sechzehnjährige das Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden ist. Es sollen bis zu 33 Männer beteiligt gewesen sein. Die Straftat war gefilmt und im Netz verbreitet worden. Daraufhin kam es zu lautstarken Protesten von Frauen, die sich mit dem Opfer und gegen Täter dieser Art solidarisieren. Es ist schlimm. Gruppenvergewaltigungen gibt es überall auf der Welt, sowohl in Ländern, in denen Frauen ihre Körper und ihre Sexualität weitgehend verstecken müssen, als auch in Ländern, in denen es eine große Offenheit gegenüber erotischen Aufzügen und Darstellungen gibt.

In meiner Vorstellung ist Brasilien für mich der Inbegriff von einem schönen Land mit vielen schönen Menschen allerlei Geschlechts, die ein sehr entspanntes und bejahendes Verhältnis zur Sexualität haben. Angesichts der schrecklichen Nachricht von dem sechzehnjährigen Mädchen habe ich mich für einen Moment lang bei dem Gedanken ertappt, dass sie vielleicht zu freizügig (angezogen) gewesen sein könnte, um dann innerlich gleich dagegen zu halten, dass ich so eben nicht denken mag. Ich möchte in einer Welt leben, in der Sexualität etwas Natürliches ist. Eine Sichtbarkeit von Erotik im Alltagsleben ist wichtig. Die Emanzipation – und nicht nur die von Frauen – hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass auch sie sich als sexuelle Wesen verstehen und zeigen können. Die Lieder von Frau Lopez und Frau Trainor mögen grässlich sein, inhaltlich liegen sie ziemlich richtig. Kein Sexappeal darf jemals eine Entschuldigung für Sexismus und sexuelle Übergriffe sein. – Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ihr wünschen, dass sie sich so freizügig geben kann, wie sie will, ohne sich dabei zu gefährden, egal wo und wann. Aber das bleibt wohl bis auf weiteres ein frommer Wunsch.

 

© Bert te Wildt