Geschichte ist nicht meine Stärke. Aber von Geschichten lasse ich mich im Alltag gerne begleiten, am liebsten indem ich mehrere Bücher parallel lese. Manche bleiben dabei auf der Strecke. Die beiden Bücher, die ich gerade zu Ende gelesen habe, teilen sich die Gemeinsamkeit, in Zeitsprüngen zu erzählen. Das ist nichts Neues. Kaum ein Roman dekliniert heute noch eine Geschichte chronologisch durch. Zum nachhaltigen Erbe der Postmoderne mag es dazugehören, kohärente Geschichten zu vermeiden, ebenso wie man sich darauf verständigt hat, dass es weder Identität noch Realität gibt. Irgendwie komme ich aber nicht ohne die beiden Begriffe aus, dies gerade weil ich mich mit den Wechselwirkungen von Medien und Psyche beschäftige. Mit der Narration geht es mir ähnlich. Ich gebe zu, ich mag die amerikanischen Erzählungen einfach lieber als die Dekonstruktionen, von denen mir die zeitgenössische deutschsprachige Literatur durchdrungen zu sein scheint.

Das klingt schrecklich konservativ, vielleicht ist es sogar reaktionär. Und so fühle ich mich auch bisweilen, wenn ich bei Vorträgen in Schulen zu vermitteln versuche, warum Kinder Geschichten brauchen, die ihnen erzählt und vorgelesen werden, und auch Geschichten, die sie selbst lesen und weiterzählen. Oder wenn ich meine, IT-Pionieren eine Geschichtsvergessenheit vorwerfen zu müssen, weil sie sich verhalten, als gebe es aus der Geschichte der industriellen Revolution nichts zu lernen und als könnten sie mit der digitalen Revolution die globale Reset-Taste Geschichte drücken.

Anders als Geschichten hat die Geschichte keinen Anfang und kein Ende. Wir Menschen brauchen aber Geschichten mit einem Anfang und einem Ende, nicht zuletzt um einen guten Start ins Leben zu haben und mit der Endlichkeit des Lebens klar zu kommen. Und wir brauchen ein Verständnis von Geschichte, mit dem wir unser individuelles Leben in einen kollektiven zeitlichen Zusammenhang bringen können. Ist es vor diesem Hintergrund so falsch zu denken, dass eine allzu große Lockerung der zeitlichen Kohärenz problematisch sein könnte? Mein Verständnis von Psychotherapie arbeitet jedenfalls mit der Vorstellung, für mehr Bewusstsein und gegen das Vergessen zu arbeiten. Und meine Vorstellung von Medienwissenschaft geht von der Hypothese aus, dass die analoge Mediengeschichte mit der Ankunft des Internets nicht für beendet zu erklären ist. Da trifft es sich gut, dass gerade vieles dafür spricht, dass das analoge Buch überleben wird.

Was die beiden erwähnten Bücher angeht, die ich gerade gelesen habe, dürfte ich auf dem Holzweg sein. Sie haben mir zwar Freude gemacht, hinterließen aber das Gefühl, dass irgendetwas am Ende nicht aufgeht. Ich fragte mich, ob die Romane auch dann noch funktionieren würden, wenn ihre Geschichten chronologisch erzählt worden wären. Aber wenn ich es mir recht überlege, dann folgen die zeitlichen Defragmentierungen der beiden einer inneren Notwendigkeit. Beim „Traumsammler“ von Khaled Hosseini bedarf es der Zeitsprünge, weil es nicht nur zeitlicher sondern auch geographischer und kultureller Perspektivenwechsel bedarf, um die Lebensgeschichten der Protagonisten miteinander so zu verweben, dass die Komplexität ihres Zusammenspiels dramaturgisch einen Sinn macht. Und bei Emily St. John Mandels’ „Station Eleven“ geht es um zwei Zeitebenen, die von einer apokalyptischen Zeitenwende getrennt sind und mit Hilfe von Zeitsprüngen in einen spannungsreichen Zusammenhang gebracht werden. Letztendlich geht es bei beiden Romanen darum, wie die Lebensgeschichten von Menschen mit der Weltgeschichte verbunden sind. Auch wenn bei mir das Gefühl bleibt, dass hier auch ein wenig postmoderner Hokuspokus am Werk ist, muss ich zugeben, dass gerade diese Romane Beispiele dafür abgeben, wie narrative Diskontinuität einem Geschichtsbewusstsein dienen kann.

Die beiden Bücher haben allerdings noch eine weitere Gemeinsamkeit. In beiden entscheidet sich jeweils ein Photograph dazu, Arzt zu werden. Ich bin selbst Arzt und habe ein Interesse an Photographie. – Keine Ahnung, ob es hier irgendwelche Zusammenhänge gibt oder ob ich es hier nur mit einer assoziativen Lockerung zu tun habe, ohne zeitliche oder kausale Bezüge. Das ist wohl eine andere Geschichte.

 

Bert te Wildt©