Man möge mir diesen völlig ironiefreien Beitrag nachsehen. Es wird eher ein Tagebucheintrag als eine Kolumne. Aber ich befinde mich in einem Rauschzustand, bin frisch verliebt in einen Ort, an dem ich im Hier und Jetzt ankomme, auch wenn man hier auf eine über tausendjährige Kulturgeschichte zurückblickt und die Schönheit seiner Natur völlig zeitlos ist. Hier lässt es sich einfach sein und im Bedarfsfall gesunden. Im Kloster Dießen am Ammersee bei München eröffnen wir jetzt eine Klink für Psychosomatische Medizin. Man möge mir meine überschäumenden Frühlingsgefühle nachsehen, aber ich bin jeden Tag von neuem im guten Sinne überwältigt. In diesem nun zum zweiten Mal in seiner Geschichte säkularisierten Kloster werden Menschen behandelt, die sich von sich und der Welt entfremdet haben, die unter Erschöpfung, Angst und Depression leiden.

Seit über zwanzig Jahren kehre ich auf meinem eigenen bisher ziemlich stressigen Lebensweg jedes Jahr einmal um und in das Kloster Neresheim ein. Dort habe ich für die Prüfungen im Medizinstudium gelernt, an Promotion, Habilitation und Büchern geschrieben, vor allem aber komme ich dort zur Ruhe. Es braucht nur wenige Minuten, um dort in meinen Klostermodus zu kommen, der mich sogleich mit Erleichterung erfüllt. Die guten Gespräche mit meinem Freund Pater Martin, der jahrzehntelang als Psychoanalytiker tätig war, tun ihr übriges. Kein Wunder, dass die Benedektinerabtei Neresheim und das Kloster St. Vinzenz in Dießen etliche Prallelen aufweisen.

Als ich im letzten Frühling, genau vor einem Jahr eigentlich, das erste Mal auf das Gelände kam und über den durch das Konventgebäude hindurchführenden Pilgerweg zur Seeseite ins Freie trat, auf alte Apfelbäume, eine Lämmerherde und den See sah, bekam ich eine wohltuende Gänsehaut. Wenn es so etwas wie Initiation gibt, dann war das ein solcher Moment. Das gibt es doch gar nicht, dachte ich mir, das ist es! Es gab noch einen zweiten solchen Moment, als ich in das zugehörige Mariennmünster trat und den Barock in aller seiner unmöglichen Pracht sah, mich hinsetzte und mit feuchten Augen einfach verstummte. Das ist es, denke ich heute immer noch an jedem Tag der drei Monate, die ich nun hier bin.

Seit 15 Jahren behandele ich Menschen mit Internetabhängigkeit. Und es ist immer deutlicher geworden, dass es nicht hilfreich ist, sich ausschließlich damit zu beschäftigen, was die Betroffenen besser nicht mehr digital tun sollten. Sondern es muss mindestens genauso viel darum gehen, das analoge Leben (wieder) zu entdecken in all seiner prallen Schönheit und Leidenschaftlichkeit. Wer holt sich schon noch seine Kicks in der leibhaftigen Wirklichkeit. Mein beschleunigtes, durchmedialisiertes bisheriges Leben ist ein gutes gewesen, aber in den letzten Jahren habe ich mich immer häufiger nach einer Alternative zu meinem Alltag in urbanen und digitalen Welten gesehnt.

Wenn unser wunderbares Team hier nun an diesem wunderschönen Ort gemeinsam mit Computerspielabhängigen, Managern mit digitalem Burnout und anderen Patienten auf der Frage nachgehen, was ein gutes Leben ausmacht, dann behandeln wir hier auch grundsätzliche Fragen des Menschseins. Für mich persönlich bedeutet es, damit nicht nur meinen beruflichen sondern auch meinen persönlichen Horizont zu erweitern. Wenn es nicht mehr so sehr darum geht, das was krank macht, zu verdrängen, sondern das, was gesund hält, zu erkennen, dann geht es um nicht weniger als eine Suche nach Glück.

Die digitale und die analoge Welt nicht gegeneinander auszuspielen, sondern unser analoges Standbein lieben, schätzen und stabilisieren zu lernen, darum geht es, letztlich um die Suche nach einer gesunden Balance, aber nicht um einen reaktionären Gegenentwurf. Deshalb werden wir neben tiergestützter und achtsamkeitsbasierter Therapie auch unter Verwendung der neuen Medien behandeln. Wir bieten Vorgespräche für die Aufnahme per Webcam an. Wir führen die Online-Ambulanz für Internetsüchtige OASIS fort. Und wir versetzen Angstpatienten mit Hilfe von Virtual-Reality-Brillen in angsteinflößende Situationen, um ihnen eine Desensibilisierung zu ermöglichen. – Wir können es kaum erwarten, erst einmal selbst mit dem Hightech-Equipment zu spielen, das dieser Tage für unseren Medienraum geliefert wurde. Die digitale Revolution birgt nicht nur Risiken sondern auch viele Chancen. Es geht darum sie zu nutzen und zu gestalten.

Insofern bedeutet dieser Ort für mich eben auch, mich noch beherzter einem einseitigen Kulturpessimismus entgegenzustellen, der mich bisweilen erfasst hat. Als Kind habe ich mich immer über meinen eigenen Optimismus gewundert. Angesichts dieses kleinen Wunders, das mir gerade widerfährt, kann ich mich wie ein Kind freuen, wieder einen guten Grund dafür gefunden zu haben. – Nur die Liebe selbst ist schöner. Aber die findet hier auch ihren Platz.