Nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag versuchte ich mich ganz bewusst auf einen entspannten Abend einzurichten. Allein zuhause wollte ich mal alle großen und kleinen Computer links liegen lassen. Ein TV-Dinnner sollte ich mir auch nicht durchgehen lassen, mir sogar das Zeitunglesen beim Abendessen versagen. Ohne Musik geht bei mir allerdings gar nichts. Damit gelingt mir zumindest die Zubereitung von Speisen, ohne dabei zu telefonieren. Viel weiter reichen meine Versuche, den Alltag achtsam und auch mal ganz ohne Medien zu gestalten in der Regel nicht. Aber immerhin langt es, um tief durchzuatmen und beim Kochen so etwas wie Achtsamkeit walten zu lassen. In solchen Momenten kann ich den Alltag mit Muße zelebrieren, was sich bisweilen etwas bedeutungsschwanger anfühlt.
Als ich an jenem Abend während meiner Essensvorbereitung mit der rechten Hand die Ein-Liter-Bio-Möhren-Saft-Flasche aufzuschütteln versuchte, entglitt sie mir. In Bruchteilen von Sekunden hatte sie jedoch meine linke Hand aufgefangen, ohne dass ich bewusst etwas davon mitbekam. Wahrscheinlich passiert einem so etwas unbemerkt alle Nase lang, aber ich schaute in diesem Moment auf die heil gebliebene Flasche wie auf ein Wunder. Das mag nicht die höchste Stufe meditativer Hingabe im Alltag gewesen sein, aber es war irgendwie ein besonderes Erlebnis. Als hätte etwas in mir meine hektische Unachtsamkeit wie von Geisterhand neutralisiert. Ich witterte ein gutes Omen.
Als ich mich an den Esstisch setzte, fühle ich mich einen kurzen Moment lang geradezu beseelt, nur um im nächsten meine guten Vorsätze sogleich wieder über Bord zu schmeißen. Beim Essen griff ich unwillkürlich nach der Wochenzeitung, wozu ich ansonsten kaum genug Zeit finde oder nehme. Es brauchte einige Minuten, bis ich die roten Flecken auf dem Papier bemerkte, welche nicht von meinem Salat kommen konnten. Ich hatte mich am Metallverschluss der Flasche geschnitten. Es war Blut. Den Finger versorgte ich mit einem Druckverband. Mit leichtem Gruseln musste ich mir eingestehen, dass ich gar nichts gespürt hatte. Dafür war ich jetzt aber von einer Art Schamgefühl erfüllt. Als wäre ich für das Zeitunglesen beim Essen schon im Vorhinein bestraft worden. Soviel zum Thema Achtsamkeit.
Aber ich bleibe dran. Die Beiläufigkeit mit denen wir uns mit den aktuellen Schrecken der Welt und den Schicksalen der Menschen beschäftigen, sie spricht Bände über uns und sie wirkt auf unsere Haltungen zurück. Aus psychologischer Sicht kann das gar nicht anders sein. Wenn wir es mit unserer Empathie wirklich ernst meinen, dann müssen wir uns auch unmittelbar berührbar machen. Wenn eine Zeitung oder die Nachrichten ein Fenster zur Welt sind, um uns nicht nur zu informieren sondern uns auch zum Handeln zu bewegen, dann dürfen wir dies nicht einfach nur so nebenbei, in einem Modus der Unterhaltung oder des Genusses tun. – Ich will nicht mehr während der Fernsehnachrichten essen und trinken. Und auch wenn ich es kaum lassen kann, will ich auch nicht mehr in jeder Situation, in der ich eine Hand frei habe, auf mein Smartphone schauen und tippen, um die Nachrichten zu empfangen, die für mich oder uns alle bestimmt sind. Ich will das nicht mehr. Und doch muss ich einigermaßen beschämt bekennen, dass es mir verdammt schwerfällt, mit Medien achtsam umzugehen. Aber es hat mir auch niemand versprochen, dass es leicht ist, ein guter gut informierter Bürger zu sein. Und es geht hier eben nicht um meine Befindlichkeit an einem mehr oder weniger entspannten Abend.
Bert te Wildt©