Neresheim, November 2017
Autor: Bert te Wildt
Disrupting childhood and old age: Alterslose Kinderlose
Letztens blieb mir zum ersten Mal das Wort kinderlos im Halse stecken. Kinderlose sind diejenigen, die kein Kind auf die Welt bringen und keine Kinder um sich haben, wenn sie selbst der Welt Adieu sagen. Wenn sie die Mitte des Lebens überschritten haben, sehen sie zu, das Lebensgefühl, das sie kurz vor der Lebensmitte hatten, so lange wie eben möglich zu konservieren. Sie arbeiten viel und geben viel aus. Damit sind sie die einzig ökonomisch sinnvolle Existenzform der menschlichen Spezies. Ganz Junge und hoch Betagte können da nicht mithalten. Sie verbrauchen einfach zu viele Ressourcen, ohne in den großen Topf einzuzahlen. Irgendwann wird die Marktwirtschaft – und wir mit ihr – mit ihnen die Geduld verlieren. Disrupting childhood and old age: Alterslose Kinderlose weiterlesen
Ambivalenzdefizit
Die Tage kam ich spätabends auf dem Nachhauseweg an einem vergleichsweise teuren Auto vorbei, das komplett auf dem Bürgersteig stand und dem von einem wütenden Passanten offensichtlich ein ordentlicher Lackschaden beigefügt worden war. Ich widerstand meinem ersten Reflex, einen einzigen Schuldigen ausmachen zu wollen. Dann dachte und sagte ich, dass sich beide schlecht verhalten haben. Aber ich war etwas erschrocken, wie schnell ich mir ein einfaches, einseitiges Urteil hätte erlauben können. In diesem Zeiten scheint mir das symptomatisch zu sein. Ich kann doch auch Kim Jong Un und Donald Trump gefährlich finden und verurteilen. Ambivalenzdefizit weiterlesen
Gamescom, Cologne, 2017
Sympathischer Sozialdarwinismus
Stehe irgendwie immer noch unter dem Eindruck der diesjährigen Gamescom, insbesondere von meinen Virtual-Reality-Kämpfen. Erst bin ich mit VR-Brille gegen putzig animierte Skelette angetreten und dann gegen endlose Horden von ziemlich realistisch aussehenden Untoten. Kampf und Krieg sind wie immer die Hauptmotive auf der weltgrößten Computerspielmesse, auch im Zombiemodus von Minecraft, das keinesfalls einfach eine harmlose digitale Variante von Lego ist. Gleich zwei Spielehersteller werben mit dem Slogan „Total War“. Und die Bundeswehr versucht auf ihrem Stand mit Shootern für Nachwuchs zu sorgen. – Aber ich möchte ja Computerspiele nicht verteufeln und immer nur die Aggressionspotentiale darin ausmachen, will vielmehr die dahingehende Dichotomie von Gut und Böse endlich aufbrechen. Und vor allem will ich nicht immer gleich alles bewerten. Sympathischer Sozialdarwinismus weiterlesen
Tel Aviv
Psychoprothese Smartphone
Sie sind smart, sie sind irgendwie phony und sie haben uns charmant im Griff. Smartphones sind längst zu klettenhaften Gefährten geworden, mit denen uns eine Hass-Liebe verbindet. Ohne sie fühlen wir uns als Singles einsam. Und in der Partnerschaft sind sie eine Quelle der Eifersucht. Alle kennen das irritierende Gefühl, wenn das Smartphone des Anderen alle Aufmerksamkeit von einem abzieht. Die Dinger haben längst eine Art Personen(kult)status erlangt. Wenn nun zu uns flüchtende oder in die USA reisende Menschen – denen es ja aus unterschiedlichen Gründen nicht gut gehen kann – ihre Smartphones abgeben sollen, stellt sich die Frage, wen oder was Sie da abgeben? – Auf diese Frage könnte man als möglichen psychologischen Erklärungsmodelle anwenden. Psychoprothese Smartphone weiterlesen
Lesen und Schreiben
Ich lese viel zu wenig und schreibe vielleicht viel zu viel. Als könnte man das bisschen, was man liest, auch gleich selber schreiben. Nun schreibe ich wirklich gern. Jede Woche oder zumindest viermal im Monat wollte ich in diesem Jahr eine Kolumne herausbringen. Es hat mir Freude bereitet, wie meine Gedanken und Beobachtungen im Alltag von dieser Aufgabe beeinflusst wurden. Aber es war auch Ein Stress. Am Ende sind es durchschnittlich drei Texte pro Monat geworden. 36 reichen, finde ich. Ob ich gut schreibe, steht auf einem anderen Blatt. Ich freue mich über jede Rückmeldung. Trotz der vielfältigen Möglichkeiten des Internets habe ich jedoch keine Ahnung, wie viele Menschen meine Kolumne wirklich lesen und etwas damit anfangen können, was mich nicht davon abhält, mich fast täglich von der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie verführen zu lassen. Kein Wunder, auch ich gehöre zu den Attention-Junkies, den Rampensäuen des Internetzeitalters. Lesen und Schreiben weiterlesen
Sich zu trauern trauen
Als sich vor kurzem der letzte der vielen großen Terroranschläge in der Türkei ereignete, war ich nicht nur entsetzt über die Tat sondern auch über die Reaktionen in Deutschland. Anstatt zunächst einmal Mitgefühl zu empfinden und zu zeigen, schienen Politik, Medien und Öffentlichkeit als erstes daran zu denken, welche Folgen das beim reaktionären Machthaber Erdogan und seinen Gefolgsleuten haben könnte. Anstatt niedergeschlagen zu sein über die menschlichen Verluste, wird als erstes daran gedacht, wer als Reaktion auf diese unmenschlichen Taten andere niederschlagen wird. Dass erst einmal die Trauer eine Zeit und einen Raum braucht, dass es vielleicht nicht gut ist, gleich zu reagieren, das kommt kaum jemanden in den Sinn, weder dem türkischem Machthaber noch seinen Kritikern. Die Unfähigkeit zu Trauern, wie Margarete und Alexander Mitscherlich es formulierten, ist brandgefährlich. Gleich zu handeln, um Trauer nicht ertragen zu müssen und sie zu instrumentalisieren, führt nicht selten zu Gewalt und neuem Leid. Das gilt auch für diejenigen, die nur die Vergeltungsmaßnahmen und gar nicht die Verzweiflung über das Geschehene sehen. Ich kann mir vorstellen, dass dies die deutsch-türkische Bevölkerung in Deutschland und in der Türkei als herzlos und empörend empfinden. Sich zu trauern trauen weiterlesen
Pluralismus zum Diktat bitte
Der Wunsch, dass es keine Unterschiede zwischen den Menschen geben möge, ist ein sehr frommer Wunsch. Das ist genau das Problem, wenn der Pluralismus über’s Ziel hinauszuschießen droht. Zum Beispiel wenn man dafür angegriffen wird, weil man eine Sekunde zu lange auf ein händchenhaltendes lesbisches Paar geschaut hat, weil man das so selten sieht. Menschen mit anderer Hautfarbe, mit Verschleierung, im Rollstuhl, mit Verbrennungsnarben im Gesicht, ein Mann in Frauenkleidern, auch ich schaue da länger hin, weil es nicht im engeren Sinne dem entspricht, was ich zu sehen gewohnt bin. Wenn ich in einer solchen Situation zu lange hinschaue, empfinde ich so etwas wie Scham. Einen Moment später denke ich dann aber, dass es nur eine Lösung gibt, gut damit umzugehen, den Menschen in die Augen zu schauen, sie freundlich anzulächeln und bestenfalls zu grüßen oder gar anzusprechen, wenn es die Situation erlaubt. Vielleicht es an der Zeit, nicht nur etwas gegen den Feindseligkeit sondern auch etwas für die Freundlichkeit zu tun. Pluralismus zum Diktat bitte weiterlesen