Ich glaube es war unser SoWi-Lehrer, der uns beibrachte, dass Große Koalitionen regelhaft eine Gefahr für Demokratien darstellen, weil sie auf längere Sicht radikalen Kräften Vorschub leisten, im Zweifelsfall Faschisten. Für mich war das so etwas wie ein Naturgesetz, weshalb mich die Machtübernahme der GroKo von SPD und CDU/CSU vor einem gefühlten Jahrzehnt beunruhigte. Eine Weile konnte ich das verdrängen, aber mehr denn je muss ich nun wieder an dieses ungeschriebene Gesetz denken. Das fängt schon bei ganz einfachen Themen an, wie zum Beispiel bei der Suche nach einem Nachfolger für Herrn Gauck. 

Im Hinblick auf die bevorstehende Bundespräsidentenwahl wird doch ernsthaft ein Problem darin gesehen, dass die beiden Regierungsparteien unabhängig voneinander nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten suchen, was zu unabhängigen Koalitionsbildungen führen könnte. Den Akteuren wird vorgeworfen, damit auf opportunistische Weise parteipolitisch zu handeln und die Regierungskoalition zu gefährden. Dabei ist das doch genau der Weg, den ein demokratisches Verfahren zu nehmen hat. Einen Grund, am Funktionieren der demokratischen Grundordnung zu zweifeln, würde es doch eher dann geben, wenn SPD und CDU/CSU hinter verschlossenen Türen eine Kandidatur absprechen, die ihrer Mehrheit von der Bundesversammlung mit großer Sicherheit abgenickt würde. Abgesehen davon, dass der gekürte Kandidat beziehungsweise die Kandidatin vermutlich ziemlich langweilig und farblos wäre, ist zu befürchten, dass dabei die sogenannten großen Parteien, die ja längst nicht mehr so groß sind, für gegenseitige Zugeständnisse bei der Kandidatenwahl noch hinsichtlich anderer Entscheidungen diverse Kuhhandel vereinbaren. – Eine solche Kandidatenkür sollte das Volk zu Recht erzürnen.

Wann haben wir verlernt, uns tüchtig miteinander auseinanderzusetzen? Seit wann wird ein offener Koalitionsstreit per se als etwas Negatives angesehen und mit einem grundsätzlichen Versagen der Politik gleichgesetzt? Wie kann es sein, dass der Eindruck entsteht, dass immer weniger Politiker im Amt öffentlich ihre ehrliche Meinung sagen? – Diese Konsenssoße ist ebenso langweilig wie heikel.Bei allem Respekt, aber dass Frau Merkel noch alle männlichen Wadenbeißer in ihrer Partei in den Griff bekommen hat und mit ihrem Schmusekurs die Politikerinnen und Politiker des Koaltionspartners auf den Schoß genommen hat, mag irgendwie beeindrucken. Aber langfristig ist es kaum förderlich, wenn wir Bürger den Eindruck bekommen, dass sich die Politik nicht mehr die Mühe macht, sich in unserem Namen ordentlich politisch zu streiten.

Massenpsychologisch gesehen führt der Verlust einer Streitkultur unweigerlich dazu, dass sich Aggressivität an anderer Stelle Bahn bricht. Das erleben wir gerade im Rahmen von politischen und weltanschaulichen Radikalisierungen, die vom Rand her kommen, aber auch immer weitere Teile der Mitte der Gesellschaft erfassen. Diese argumentieren ja gerade damit, dass es eine konformistische Gleichschaltung der Politik und der Medien geben würde.

Nun ist Wut ein ziemlich vitaler Affekt. Menschen brauchen Wut, um sich wehren zu können. Es wird Zeit, dass die Mitte der Gesellschaft ihre Wut nicht den radikalen Kräften am Rand überlässt. Die unbewusste Delegation von Aggression an Radikale ist brandgefährlich. Es wird verdammt noch mal Zeit, dass wir in und für unsere Demokratie wieder richtig streiten, im besten Falle weiter oder wieder mit Worten.

© Bert te Wildt