Es klingt vermessen, die Gefühle vermessen zu wollen, aber genau das geschieht gerade im Netz in ganz großem Stil. Zumindest wird es versucht. Nachdem die sogenannte künstliche Intelligenz sich des Denkens ziemlich erfolgreich bemächtigt hat, ist jetzt unser Fühlen angezählt. Computer sollen immer besser berechnen und einschätzen können, wie wir uns gerade fühlen, und können darauf entsprechend reagieren: Es gibt Smartphone-Apps, die aus mündlichen Wortbeiträgen nicht nur linguistisch sondern auch phonetisch den Stimmungsverlauf einer Unterhaltung einschätzen können. Kollegen, die eine App zur Selbstreflexion der eigenen Smartphonenutzung entwickelt haben, berichten mir, dass sie unabhängig von den Inhalten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit über Kommunikationsverhalten, Bewegungsprofile und Schlafmuster erkennen können, ob jemand depressiv ist oder nicht. Mit Hilfe von Webcams, die auf unser Gesicht gerichtet sind, was ja die meiste Zeit des Tages der Fall ist – bitte lächeln Sie doch gerade mal kurz oben in die Kamera – können Gesichtsausdrücke und damit Gefühlszustände abgelesen werden.

Die genannten Anwendungen können alle in der Psychotherapie verwendet werden, um den Therapieverlauf eines Gesprächs oder eines therapeutischen Programms zu analysieren oder um Therapeuten gleich zu ersetzen. Es gibt längst Bots und Robots, die mit diesen Funktionen ausgestattet sind. Stellen Sie sich vor, ein virtueller Klon von Meryl Streep fungiert als Ihre Psychotherapeutin, sie schaut Ihnen vom Bildschirm aus scheinbar direkt in die Augen, erkennt, dass Sie heute einmal wieder traurig sind, und fragt Sie mit warmherzigen Stimme, was denn los sei? – Nach allem, was man so darüber hört, liest und beobachten kann, sind immer mehr Menschen dazu bereit, sich auf digitale oder robotische Androide einzulassen, solange sie eine gute Illusion erzeugen.

Warum diese entwickelt werden, hat mit Psychotherapie allerdings weniger zu tun. Psychologische Forschung dieser Art dient vielmehr dazu, die Bedürfnisse von Konsumenten noch besser studieren und individuell befriedigen zu können. Es geht darum, unsere Wünsche von unsrem Gesichtsausdruck oder zwischen den Zeilen des Gesagten und Geschrieben abzulesen und uns noch gezielter mit Werbung eine möglichst unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verheißen. Längst wird mit der Hypothese gearbeitet, dass man die Wünsche nicht nur erkennen kann, bevor die sie die Menschen selbst verspüren, sondern dass man sie damit auch steuern kann. Was den einen ein zivilisatorischer Alptraum sein mag, beschert den anderen ökonomische Glücksmomente.

Als Psychiater und Psychotherapeut muss mir stets im Bewusstsein bleiben, dass diagnostische Kriterien, die psychische Phänomene beschreiben, stets eine Vereinfachung und als solche ein Hilfsmittel zur Verständigung im Hinblick auf Forschung, Diagnostik und Therapie sind, aber nicht den Wesenskern einer psychischen Erkrankung selbst beschreiben. Wirklich gruselig wird es allerdings, wenn man den ersten Untersuchungen Glauben schenken darf, dass sich unser Fühlen, Denken und Handeln immer mehr den vereinfachenden Algorithmen im Netz anpassen. Was Bots und bald auch Robots damit veranstalten, geht vermutlich noch sehr viel weiter. Sie werden sich vielleicht bald dermaßen auf unsere Affektlogik verstehen, dass uns der Umgang mit ihnen unmerklich zu Objekten der Manipulation werden lässt.

Wenngleich das aus wissenschaftlicher Sicht inakzeptabel erscheinen mag, ich halte an dem tröstlichen Gedanken fest, dass man Gefühle im Kern gar nicht vermessen kann, weder mit arabischen Zahlen noch mit digitalen Codes. Und wer Gefühle künstlich zu erzeugen oder krampfhaft zu neutralisieren versucht, wird depressiv, zumindest als Mensch. – Fühl mich gut gerade, echt jetzt.

Bert te Wildt©