„Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern — Wirklichkeit.“ so Sigmund Freud 1907, was nicht notwendigerweise bedeuten muss, dass die Realität der Feind des Spiels ist. Die virtuelle Realität ist ja auch eine Realität, die nicht selten ziemlich verspielt daherkommt. Wenn ich mich mal wieder über das Suchtpotential von Computerspielen aufrege oder der ein oder anderen hyperrealistischen Kriegssimulation abspreche, überhaupt ein Spiel zu sein, muss ich den Spielverderber spielen. Gehört nun einmal zu meinem Job.
Gamification scheint jedenfalls gerade der Begriff der Stunde zu sein. Ich weiß nicht, wie man diesen Begriff ins Deutsche übersetzen soll, wenn man Game mitübersetzen will. Gamifizierung klingt jedenfalls ziemlich schrecklich danach, als spräche man über eine um sich greifende Virusepidemie, die alle zu digitalen Junkies macht, zu zombiehaften Dauerzockern, die ihr Leben im Diesseits der konkreten Realität verspielen. Nein, es ist zynisch, alle Lebensbereiche in ein Spiel verwandeln zu wollen.
Längst aber hat die Gamifizierung auch Bereiche angesteckt, die originär etwas mit dem Ernst des Lebens zu tun haben, beispielsweise die Bildungsindustrie, als wären die Effekte spielerischen Lernens nicht längst ein alter Hut. Auf der LEARNTEC, einer Messe für digitale Bildung, die mit dem Bild einer roboterartig aussehenden Frau für sich wirbt, wurden allerlei verspielte digitale Lernangebote von Firmen und Instituten vorgestellt. Dass es gar nicht so sehr darum ging, Schülern möglichst jeden Lehrinhalt spielerisch zu servieren, fand ich ebenso überraschend wie angenehm. Auffallend viele Angebote drehten sich vielmehr um Erwachsenenbildung, Mitarbeiterschulung und Coaching.
Team-Coaching habe ich leider schon mehrfach erleben dürfen. Die Vorstellung, das auch noch in gamifzierter Form mitmachen zu müssen, ist mir ein Graus. Vielleicht bin ich ja ein spaßbefreiter Nörgler, aber mir ist das meiste davon suspekt. Ich muss dann an Manager denken, die sich als Soldaten verkleiden und Spiel ohne Grenzen spielen, um noch teamfähiger und härter zu werden und um sich schließlich gegen den Rest der Welt noch besser durchsetzen zu können.
Jedenfalls hörte ich einen Vortrag über ein Spiel, bei dem es um den Umgang mit offenen Systemen geht. Es wurde von einer renommierten Universität und einem schicken jungen Unternehmen aus Berlin zum Team-Coaching entwickelt. Das vordergründige Ziel dieses serious game ist es, gemeinsam ein Haus zu renovieren. Der dahinter liegende Sinn liege darin, Teams beizubringen, die Ressourcen möglichst aller MitarbeiterInnen kennen und nutzen zu lernen. Übersetzt für ein Klinikunternehmen heißt das, dass wir, wenn wir eine Reinigungskraft mit Migrationshintergrund bei uns beschäftigen würden, im Bedarfsfall ihre Sprachkompetenz für Übersetzungen nutzen würden, wenn sich ein traumatisierter Kriegsflüchtling bei uns vorstellt.
Im Planspiel ist das natürlich alles ganz harmlos und unpolitisch. Damit es Spaß macht, spielen die Mitarbeiter Tierfiguren, um bei der virtuellen Renovierung zu lernen, keine Humanressource ungenutzt zu lassen. Ich fand das überhaupt nicht süß, geschweige denn lustig, wie der Spieleentwickler auf dem Podium. Brauchen Teams in Unternehmen wirklich ein vermeintlich ernsthaftes Computerspiel, um gemeinsam unternehmerisch etwas auf die Beine zu stellen? Braucht ein Coach wirklich so ein tool oder kann man den Umgang mit offenen Systemen nicht auch an einer konkreten Unternehmensaufgabe demonstrieren? Und wenn es zur Übung nicht im Betrieb selbst stattfinden soll, warum dann nicht ein sinnvolles externes Projekt in Angriff nehmen?
Vor kurzem war ich bei einem Treffen von www.Projekt-Ankommen.de in Dortmund. Das ist auch ein offenes System. Jede/r wird gebraucht und kann etwas beitragen. Ich war schwer beeindruckt davon, wie sich dort Bürger organisieren, wie beispielsweise durcheinander gewürfelte Teams Wohnungen für Flüchtlinge einrichten. Ist die Frage daneben, ob nicht die Erprobung von Teamfähigkeit der Unternehmen auch im Ehrenamt zum Einsatz kommen könnte, meinetwegen auch mit einem Coach? Bei allem Ernst der aktuellen Wirklichkeit könnte das vielleicht auf beiden Seiten ebenso lehr- wie hilfreich sein und am Ende noch Freude bereiten.
Und geht es nicht gerade überhaupt um die Frage, in wie weit wir in einem offenen System leben wollen und werden? Auf dem Weg zu einer gelebten Antwort können wir uns nicht mehr viel Naivität erlauben. In diesem Zusammenhang ist es schon bemerkenswert, dass ausgerechnet wirtschaftliche Interessen für den Erhalt und den Ausbau offener Grenzen und Zonen sprechen.
Bert te Wildt©