Zurzeit beherrschen drei Ereignisse die Diskussion um die moralischen Grenzen dessen, was der medialen Öffentlichkeit zugemutet bzw. erlaubt werden kann: die spektakuläre Darstellung von Leichenpräparaten, die Zurschaustellung demütigender Mutproben im Fernsehen und der durch das Internet vermittelte Fall von Kannibalismus in beiderlei Einvernehmen. Die drei Phänomene bergen Gemeinsamkeiten, die Fragen nach der Bewertung des freien Willens von Einzelnen und nach der Notwendigkeit der Selbstzensur von Kollektiven aufwerfen. Gunter von Hagen stellt haltbar gemachte Leichen aus, so genannte Plastinate, deren anatomische Strukturen auf künstlich-spielerische Weise freigelegt sind. Die Präparierung erfolgt nicht in erster Linie gemäß üblicher anatomischer Verfahren, sondern vielmehr im Hinblick auf eine anthropomorphe Ästhetisierung.

Die für den Laienzuschauer gedachte Ausstellung zielt auf den spektakulären Effekt, nicht auf die Vermittlung von einer Wissen vermittelnden Erfahrung, sonst würde man sich gängiger anatomischer Praktiken bedienen. Die Respektabilität der Anatomie-Professur von Hagens an einem chinesischen Institut leidet nicht zuletzt auch unter dessen Eingeständnis, nicht gänzlich ausschließen zu können, dass sich unter seinen Präparaten auch Hinrichtungsopfer der chinesischen Diktatur befinden. In diesem Zusammenhang geht es jedoch vielmehr um die bemerkenswerte Tatsache, dass er mittlerweile genug Freiwillige findet, die sich willig dazu bereit erklären, sich nach ihrem Ableben präparieren und ausstellen zu lassen. Dies wird angesichts schwindender Religiosität, sinkender Schamgrenzen und steigendem Exhibitionismus kaum noch jemanden überraschen. Außerordentlich groß ist die Zahl derer, die sich die präparierten Toten für einen relativ hohen Eintrittspreis freiwillig anschauen. Diese Freiwilligkeit auf beiden Seiten mag die eigentliche Irritation ausmachen, die es einer kritischen Betrachtung einer solchen Zurschaustellung von Leichenobjekten schwer macht. Allerdings können sich auch die Kritiker einer solchen Veranstaltung kaum entziehen, da diese zum allgegenwärtigen Medienereignis geworden ist. Eine noch so kritische Berichterstattung in Tageszeitungen oder Medien verzichtet in der Regel nicht darauf, selbst Bilder der präparierten Leichen zu zeigen. Für einen am Alltagsleben Deutschlands teilnehmenden Menschen ist es schlechterdings nicht möglich, nicht eine der für die Ausstellung werbenden Abbildungen zu sehen. Schwerer noch als diese Obszönität wiegt die Tatsache, dass es ebenso unmöglich ist, seine Kinder vor deren Anblick zu bewahren, da in jeder großen Stadt großflächige Plakate der Leichenbilder hängen. Ohne seine mediale Omnipräsenz wäre die Ausstellung nicht zu einem so immensen kommerziellen Erfolg geworden. Die multimediale Aufbereitung der Schau führt aber auch dazu, dass sich diejenigen, die sie ablehnen, den Wirkungen der Bilder nicht entziehen können. Ihnen ist damit eine Freiwilligkeit genommen. Die Verquickung von medialem und kommerziellem Erfolg erzeugt an dieser Stelle ein moralisches Dilemma in Bezug auf die Wertzuschreibung von Freiwilligkeit. Die eine Extremposition innerhalb einer solchen Diskussion stellt die Frage nach der Zensur von medialen Inhalten und die andere die Frage nach einer Nötigung durch mediale Inhalte. Im Zentrum einer solchen gesellschaftlichen Auseinandersetzung steht die Notwendigkeit, die einander störenden Freiwilligkeiten gegeneinander abzuwägen.
Wenn kritisiert wird, dass sich zur Belustigung der Zuschauer Prominente aus der dritten Reihe in einem künstlichen Dschungelcamp vor laufender Kamera wochenlang demütigen lassen, dann berührt dies ganz ähnliche Fragenkomplexe. Auch hier grenzt es an Leichenfledderei, wenn sich D-Promis mit längst abgelaufenem Verfallsdatum verzweifelt um ein letztes Quentchen Aufmerksamkeit bemühen. Sich der Berichterstattung und den unangenehmen Bildern der Sendung zu entziehen ist alljährlich eine zeitlang kaum möglich. Neben den offenkundigen Verstößen gegen Tierschutz und Menschenwürde, ist auch hier die Freiwilligkeit auf der Seite von Kandidaten und Zuschauern, die zu Befremdung und Sorge Anlass gibt. Die Kandidaten geben beim Eintritt in eine solche Show ihren freien Willen ab, um sich als Versuchstiere zur Verfügung zu stellen. Für einen ausgedehnten Zeitraum befinden sie sich wie versklavt in der zweifelhaften Obhut eines Senders und dessen sensationsbegierigen Zuschauern. Der Vergleich mit den Gladiatorenkämpfen im alten Rom kommt nicht von ungefähr. In der heutigen Mediokratie nehmen die Teilnehmenden ihren Platz in einem solchen Spiel allerdings freiwillig ein. Angesichts der vielfältigen thematischen Nähe zum Tierreich drängt sich in diesem Zusammenhang der Verdacht auf, dass hier nur von dem Maß von Freiwilligkeit die Rede sein kann, welches man auch einem Tier zubilligen würde. Beim Tier geht es um die reine Bedürfnisbefriedigung, die sich einer jeden Bewertung entzieht. Da es bei der Bedürfnislage des sogenannten zivilisierten Menschen aber eben nicht mehr wirklich um das Fressen sondern um die Moral geht, muss sich die Diktatur der Bedürfnisse (in Form eines globalisierten Kapitalismus) mit dem Gesetz der Freiwilligkeit (im Rahmen einer grenzenlosen Medialisierung) wappnen und maskieren. Das Versprechen einer individuellen Befriedigung aller Bedürfnisse des Menschen durch Kapital und Medien ist eine Illusion schier unglaublichen Ausmaßes, wobei das Unbehagen an dieser Unkultur zurzeit ebenso allgegenwärtig wie konsequenzenlos ist. Innerhalb dieser Bewegung ist der Individualismus zur neuen Religion erhoben worden, deren ungeschriebene Morallehre sich letztlich nur noch auf eine anachronistische Vorstellung von Freiwilligkeit begründet. Kann aber bei einer Befriedigung der niedersten Bedürfnisse ernsthaft von einem freien menschlichen Willen gesprochen werden? – Auch wenn es im Medienzusammnenhang eben nicht um materielle sondern um eher emotionale Bedürfnisse geht, muss doch die Eins-zu-Eins-Umsetzung bzw. -Befriedigung dieser Bedürfnisse als Beweis dafür gewertet werden, dass dies nichts mit Wahlfreiheit im engeren Sinne zu tun hat. Wenn es keinen Diskussionsbedarf mehr gibt, ob wir bestimmten Bedürfnissen nachgehen wollen oder nicht, wenn wir unsere Bedürfnisse letztlich mit unserem Willen gleichsetzen, dann stellt sich die Frage, ob wir den freien Willen entweder gar nie wirklich entwickelt oder längst wieder abgegeben haben. Auf diese Weise drohen Fernsehsender – auch die der öffentlich-rechtlichen Anstalten – zu Bedürfnisanstalten zu verkommen. Die Medien und die Werbung, stellvertretend für das kapitalistische System, setzen freilich alles daran, diesen Verlust von Freiwilligkeit zu verschleiern oder gar als das Gegenteil darzustellen. Das Dschungelcamp zum Beispiel kann auch als Rache des kleinen Mannes verstanden werden, der nicht merkt, dass er sich dabei auf verschiedene Art und Weise mästen und melken lässt, nicht nur als Werbekunde, sondern eben auch als potentieller Superstar, dem am Ende – sollte er soweit kommen – aber nur noch die Versklavung und Demütigung in einem Camp oder Container bleibt. So versorgt sich das mediale System selbst mit Kandidaten aus der Mitte seiner Zuschauergemeinde, von denen einige wenige zumindest für einen kurzen Zeitraum ihres Lebens auf der anderen Seite des Bildschirms landen, um hiervon schließlich wieder in die Masse des Angebots an willfährigen Mitspielern ausgespien zu werden. An dieser Stelle auf den freien menschlichen Willen zu verweisen, erscheint als zynisch. Der allgegenwärtige Zynismus in den Medien, vor allem in den Reality-TV-Formaten, wird allerdings von kaum noch jemandem bemerkt. Dass sich hinter all der beißenden Ironie eine ungeheure Aggressivität verbirgt, die sich letztendlich gegen den Menschen selbst richtet und seine Gemeinschaft von innen angreift, scheint kaum noch jemandem aufzufallen. Die sich gleichzeitig vollziehende Kultivierung von Aggressivität und Passivität in der Zuschauerhaltung mag einer Befriedigung der Bedürfnisse dienen. Einer Befriedung der Gesellschaft muss sie jedoch zuwider laufen und droht langfristig, für sozialen Sprengstoff sorgen. Vielleicht muss der Begriff von Freiheit noch weiter pervertiert, die verbliebenen ethischen Grenzen noch weiter überschritten werden, bevor die Gesellschaft erkennt, dass von Freiwilligkeit im anthropologischen Sinne nur die Rede sein kann, wenn es auch einen Willen zur Anerkennung von Grenzen der Freiheit und Freiwilligkeit gibt.
Grenzen überschritten haben ganz offensichtlich zwei Männer, deren Geschichte ebenfalls zu einem Medienereignis geworden ist. Hierbei kann man einen Geschmack davon bekommen, wie es sich anfühlt, Zuschauer bei einem Ereignis zu sein, dass den Vorgängen bei Gladiatorenkämpfen recht nahe kommt. Die beiden Männer lernten sich über das Internet kennen. Der eine suchte ein Schlachtopfer zum anschließenden Verzehr. Der andere wollte geschlachtet und verspeist werden. Einige andere potentielle Opfer hatten im Haus des Täters kurzfristig ihre Freiwilligkeitserklärung zurückgezogen, woraufhin er sie ungehindert gehen ließ. Es besteht also wenig Zweifel daran, dass sich Täter und Opfer in dieser Situation als freiwillig und autonom erlebten. In der deutschen Rechtsgeschichte gilt dieses Ereignis bisher als einmalig. Das Besondere daran, ist die Einvernehmlichkeit einer Tötung auf Verlangen zur beiderseitigen sexuellen Befriedigung. Es bedarf keiner Kühnheit zu behaupten, dass sich ohne die modernen digitalen Medien, ein Aufeinandertreffen sich so perfekt ergänzender Perversionen wohl kaum ereignet hätte. In der anonymen Interaktivität des Internets findet sich vermutlich immer jemand, der die Bedürfnisse zu erfüllen bereit ist, die komplementär genau seinen eigenen Neigungen entsprechen. Hier sind es also nicht die Medien selbst, die Bedürfnisse befriedigen, sondern die Medien fungieren lediglich als virtuelle Vermittler und Anbahner realer Bedürfniserfüllungen. Das Internet kann so zur Kultivierung und Beschleunigung pathologischer Entwicklungen beitragen. Andere Beispiele hierfür sind die interaktiven Foren, in denen sich Magersüchtige gegenseitig Hinweise zum lebensgefährlichen Hungern geben, oder in denen sich Suizidwillige zum realen gemeinsamen Suizid verabreden, z. T. auch live vor laufender Webcam sichtbar für jeden. – Dass das Opfer des sicherlich persönlichkeitsgestörten Mann auch suizidale Impulse gehabt haben mag – Gerichtsgutachter attestierten beiden volle Schuld- bzw. Einwilligungsfähigkeit -, kann den Eindruck nur wenig schmälern, dass hier zwei erwachsene Menschen freiwillig den Tod des Einen in Kauf nahmen, um ihre einander ergänzenden Phantasien zu realisieren. Es ist nicht auszuschließen, dass neben der katalytischen Funktion des Internets noch andere mediale Faktoren eine Rolle beim Vollzug der bizarren Tat spielten. Beide Akteure haben im Sinne einer fragwürdigen Pionierarbeit posthum eine gewisse mediale Berühmtheit erlangt, die sie höchstwahrscheinlich antizipierten. Dies äußerte sich nicht zuletzt darin, dass die beiden ein Video von der Tat drehten, welches – sollte es dazu kommen – auf dem Schwarzmarkt sicherlich für hohe Summen einen großen Kundenkreis fände, wobei in der Logik einer Moral der Freiwilligkeit an einer medialen Vermarktung gar nichts auszusetzen wäre. Mit Spannung darf erwartet werden, wie die Medien mit dem Täter umgehen werden, wenn dieser interviewbereit aus dem Gefängnis kommt. Anfragen bezüglich des Erwerbs der Filmrechte gibt es schon. Das Interesse an dem Fall ist jedenfalls weltweit groß und einem jeden wird es schwer fallen, sich dem auf die eine oder andere Art und Weise zu entziehen. Das Unheimliche daran speist sich aber interessanterweise nicht allein aus der Schrecklichkeit der Tat selbst, sondern vor allem auch aus der Einvernehmlichkeit, in der sie geschah. Die Aufmerksamkeit, die sie erfährt, begründet sich nicht nur aus der Lust am Voyeurismus, sondern auch aus der Belustigung, die sich daraus ergibt, dass die Freiwilligkeit auch eine gewisse Entlastung, eine Harmlosigkeit mit sich gebracht hat. Zwei erwachsene Menschen haben ihre polymorphen Perversionen gemeinsam ausgelebt, wobei der eine scheinbar lustvoll ums Leben kam. Es gibt mit Sicherheit viele, die sich spontan die Frage stellen, was daran überhaupt grundsätzlich auszusetzen sei.
Und genau darin sollten wir den wichtigsten Grund für unser Entsetzen vermuten: Wir sind nicht einmal wirklich überrascht, was die freie Wahl, die eigenen Bedürfnisse automatisch zum eigenen Willen zu erheben, für gefährliche Blüten treibt. Da diese dem Menschen unwürdige Vorstellung von Freiwilligkeit quasi zu einem moralischen Gesetz erhoben worden ist, erleben sich Mensch und Gesellschaft zunehmend als entscheidungs- und handlungsunfähig, wenn es darum geht unser emotional-mediales Klima zu gestalten und zu schützen. Dagegen scheint sich allmählich ein Bedürfnis nach erwachsener Selbstzensur zu formieren. Zumindest aber stellt sich die Frage danach, wo sie geblieben ist, die sogenannte freiwillige Selbstkontrolle.

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