Wenn der Herbst kommt, ist heutzutage der Winter nicht mehr weit. Das Sterben kommt jedoch auch weiterhin bestenfalls nach dem Abschiednehmen. Solange wir noch nicht als individuelle Bots in der digitalen Welt oder als androide Roboter in der analogen Welt ewig weiterleben können, solange das ewige Leben im Science Fiction noch auf sich warten lässt, solange sollten wir uns wohl noch mit dem Sterben im Internetzeitalter befassen. Apropos Sterben, Eltern haben dafür zu sorgen, dass ihre Nachkommen möglichst direkt in die digitale Welt hineingeboren werden. Die heute Erwachsenen legen für ihre Brut schon Accounts in sozialen Netzwerken an, bevor sie überhaupt geboren werden. Da ja ein Fötus noch kein Selfie von sich machen kann, müssen hier Gynäkologen und werdende Eltern gewissenhaft die Dokumentation der ersten Lebenszeichen übernehmen. Nach den Ultraschallbildern der sich stets bis aufs Ei gleichenden Föten wird wohl bald auch die künstliche Befruchtung live und in Farbe aus der Petrischale übertragen. Dank Biotechnologie können wir bald am digitalen Reißbrett Avatare erschaffen, nach deren Ebenbild unsere Nachhut gezeugt, ausgetragen und großgezogen wird. Den Lebensanfang hätten wir damit schon einmal schön unter Kontrolle.

Auch für das Lebensende sollten wir besser vorsorgen. Soziale Netzwerke arbeiten schon fieberhaft an guten Lösungen, für das digitale Leben nach dem Tode. Bis wir aus den sterblichen digitalen Überresten virtuell lebensfähige Avatare Zimmern können, sollte unser Datenerbe möglichst sicher, anständig und pietätvoll auf Servern kreisen. Aber unabhängig von den großen globalen IT-Playern, die das Thema Sterben eher meiden wie der Teufel das Weihwasser, haben sich längst riesige digitale Areale an virtuellen Friedhöfen etabliert.

Ein beliebtes deutsches Exemplar heißt sinnigerweise „Straße der Besten“. Ohne eine Prise Narzissmus kommt ja im Netz heute nichts mehr aus. Man kann unter verschiedenen Friedhofslandschaften und Grablagen auswählen, um dort dann eine Grabstelle zu errichten. Die Grundausstattung ist kostenlos. Wer mehr will – zum Beispiel flackernde Grablichter, sich im Wind wiegende Pflanzen oder einen schicken Schriftzug – muss zahlen. Ansonsten finanzieren sich die vielen Webseiten dieser Art selbstverständlich über Werbung. Als Gast kann man für Geld, auch Kerzen und Gedanken über die Verstorbenen hinterlegen. Das mag albern und abstrus erscheinen. Wer sich das aber wirklich einmal anschaut, wird sich der emotionalen Wirkung virtueller Grabmäler nicht ganz entziehen können, insbesondere wenn es sich um die für Kinder handelt.

Aber mit dem Trauern haben wir es ja nicht mehr so. Anonyme Bestattungen Ligen im Trend. Die konkret eingetroffene Endlichkeit des Lebens wird mehr denn je als unverschämte Zumutung empfunden und totgeschwiegen. Da kommen virtuelle Gräber doch gerade recht. Sie sind platzsparend, kostengünstig und machen keinen Dreck. Aber ernsthaft jetzt: Es scheint da eine neue Unfähigkeit zu Trauern zu geben, die mir Sorgen macht. Ich selbst möchte verbrannt werden, das mit dem Begrabenwerden mögen andere entscheiden und regeln, wie es ihnen lieb ist und ich ihnen lieb war. Alles, was von mir übrig bleibt im Netz, das ja angeblich nichts vergisst, möge man sich selbst überlassen. Die Vorstellung, ewig zu leben im Jenseits des digitalen Orkus, finde ich ziemlich schrecklich.

Übrigens gibt es längst auch schon virtuelle Friedhöfe für liebgewonnene Avatare von Computerspielen. Wer sich jahrelang mit einem virtuellen Helden identifiziert hat, soll ihn auch ordentlich begraben können, wenn er ihn sterben lässt und sich von ihm für immer trennt. Der Begriff Avatar kommt übrigens aus dem Sanskrit und bedeutet Inkarnation des Göttlichen. Drunter geht’s nicht. Vielleicht würde es uns Menschen gut tun, wenn wir unseren ewigen Drang, Gott spielen zu wollen, auch mal zu Grabe tragen würden.

Bert te Wildt©