Pluralismus zum Diktat bitte

Der Wunsch, dass es keine Unterschiede zwischen den Menschen geben möge, ist ein sehr frommer Wunsch. Das ist genau das Problem, wenn der Pluralismus über’s Ziel hinauszuschießen droht. Zum Beispiel wenn man dafür angegriffen wird, weil man eine Sekunde zu lange auf ein händchenhaltendes lesbisches Paar geschaut hat, weil man das so selten sieht. Menschen mit anderer Hautfarbe, mit Verschleierung, im Rollstuhl, mit Verbrennungsnarben im Gesicht, ein Mann in Frauenkleidern, auch ich schaue da länger hin, weil es nicht im engeren Sinne dem entspricht, was ich zu sehen gewohnt bin. Wenn ich in einer solchen Situation zu lange hinschaue, empfinde ich so etwas wie Scham. Einen Moment später denke ich dann aber, dass es nur eine Lösung gibt, gut damit umzugehen, den Menschen in die Augen zu schauen, sie freundlich anzulächeln und bestenfalls zu grüßen oder gar anzusprechen, wenn es die Situation erlaubt. Vielleicht es an der Zeit, nicht nur etwas gegen den Feindseligkeit sondern auch etwas für die Freundlichkeit zu tun. Pluralismus zum Diktat bitte weiterlesen

Dumm gelaufen

Bedauerlicherweise hat auch der jüngste Wahlausgang in den USA viel mit dem zu tun, was in der globalen Medienlandschaft derzeit so alles schief läuft. Klar, es ging dabei auch um Ängste vor der Globalisierung (die nicht zuletzt ein Produkt der Digitalisierung ist) und die sich vergrößernde Schere zwischen Arm und Reich durch den Neoliberalismus (der nicht zuletzt vom Silicon Valley seinen Ausgang genommen hat). Aber die jüngste Medien-Wahlschlacht und das sinkende Niveau der politischen Kommunikation, sie sind ein Ausdruck eines Populismus, der sich aus einer sich umfassend verändernden Medienlandschaft speist. Hier hat keine Schwarmintelligenz der Demokratie unter die Arme gegriffen, wie wir sie dem Internet zuschrieben. Das ist schwarmdumm gelaufen. Dumm gelaufen weiterlesen

Vermessung der Gefühle

Es klingt vermessen, die Gefühle vermessen zu wollen, aber genau das geschieht gerade im Netz in ganz großem Stil. Zumindest wird es versucht. Nachdem die sogenannte künstliche Intelligenz sich des Denkens ziemlich erfolgreich bemächtigt hat, ist jetzt unser Fühlen angezählt. Computer sollen immer besser berechnen und einschätzen können, wie wir uns gerade fühlen, und können darauf entsprechend reagieren: Es gibt Smartphone-Apps, die aus mündlichen Wortbeiträgen nicht nur linguistisch sondern auch phonetisch den Stimmungsverlauf einer Unterhaltung einschätzen können. Kollegen, die eine App zur Selbstreflexion der eigenen Smartphonenutzung entwickelt haben, berichten mir, dass sie unabhängig von den Inhalten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit über Kommunikationsverhalten, Bewegungsprofile und Schlafmuster erkennen können, ob jemand depressiv ist oder nicht. Mit Hilfe von Webcams, die auf unser Gesicht gerichtet sind, was ja die meiste Zeit des Tages der Fall ist – bitte lächeln Sie doch gerade mal kurz oben in die Kamera – können Gesichtsausdrücke und damit Gefühlszustände abgelesen werden. Vermessung der Gefühle weiterlesen

Kloster in mir

Heute ist Sonntag, die Ausnahme von der Regel einer in der Regel arbeitsreichen Woche. Ich halte mir den Sonntag gerne schon mal frei von digitalen Medien. Aber vielleicht liegt das einfach nur daran, dass ich mit Computern vor allem Arbeit verbinde und mich nicht gut genug darauf verstehe, es mir auch im Netz schön zu machen. Was für die Woche der Sonntag, ist mir für das Jahr eine Woche Auszeit im Kloster. Damit habe ich schon vor über zwanzig Jahren begonnen, zu einer Zeit als ich noch gar kein mobiles digitales Endgerät mein eigen nannte. Die kostbare Zeit dort ist mir nach wie vor lieber als Digital-Detox-Retreats.   Kloster in mir weiterlesen

Auch eine Entscheidung

Eine Online-Ambulanz für Online-Süchtige, das empfinden tatsächlich nicht wenige als eine Provokation. Das Schwarz-Weiß-Denken, ob es nun um die gute alte analoge und die schöne neue digitale Welt geht, oder um die scheinbare Unvereinbarkeit von Euphorie und Besorgniserregung angesichts der Virtualisierung des Alltagslebens, wir haben es wohl längst noch nicht überwunden. Auch eine Entscheidung weiterlesen

Ins Netz sterben

Wenn der Herbst kommt, ist heutzutage der Winter nicht mehr weit. Das Sterben kommt jedoch auch weiterhin bestenfalls nach dem Abschiednehmen. Solange wir noch nicht als individuelle Bots in der digitalen Welt oder als androide Roboter in der analogen Welt ewig weiterleben können, solange das ewige Leben im Science Fiction noch auf sich warten lässt, solange sollten wir uns wohl noch mit dem Sterben im Internetzeitalter befassen. Apropos Sterben, Eltern haben dafür zu sorgen, dass ihre Nachkommen möglichst direkt in die digitale Welt hineingeboren werden. Die heute Erwachsenen legen für ihre Brut schon Accounts in sozialen Netzwerken an, bevor sie überhaupt geboren werden. Da ja ein Fötus noch kein Selfie von sich machen kann, müssen hier Gynäkologen und werdende Eltern gewissenhaft die Dokumentation der ersten Lebenszeichen übernehmen. Nach den Ultraschallbildern der sich stets bis aufs Ei gleichenden Föten wird wohl bald auch die künstliche Befruchtung live und in Farbe aus der Petrischale übertragen. Dank Biotechnologie können wir bald am digitalen Reißbrett Avatare erschaffen, nach deren Ebenbild unsere Nachhut gezeugt, ausgetragen und großgezogen wird. Den Lebensanfang hätten wir damit schon einmal schön unter Kontrolle. Ins Netz sterben weiterlesen

V.T. – Virtual Therapy

Bald werden wir Psychotherapeuten wohl auch von künstlicher Intelligenz ersetzt. Warum sollten es Bots nicht besser können als wir? Das mit den Gefühlen wird wohl überbewertet. Die müssen wir manchmal selbst simulieren, wenn es uns gerade mal an Empathie mangelt, weil privat nicht alles rund läuft. Und wenn die artifizielle Intelligentsia dann in die Computergehirne von Robotern umzieht, die vielleicht noch biotechnlogisch mit Haut und Haaren überzogen sind, dann haben auch wir Seelenklempner ausgedient. Vielleicht hat bald ohenhin jeder seinen Androiden daheim, der wahlweise alles für uns sein kann, nicht allein FreundIn, PartnerIn und LiebhaberIn, sondern eben auch PsychotherapeutIn. Die Bindung an so eine eierlegende Wollmilchsau des Internetzeitalers dürfte sich als ziemlich eng erweisen. V.T. – Virtual Therapy weiterlesen

Wirklichkeit Spielen, in echt jetzt

Bin immer noch etwas berauscht, von der Gamescom im Allgemeinen und einem Virtual-Reality-Trip im Besonderen. Das Spiel war ziemlich simpel, aber das Erleben durch die VR-Brille atemberaubend, aufregend und schön. Immer wenn ich davon erzähle, bekomme ich eine Gänsehaut. Und ich hatte dieser Tage ständig das Bedürfnis von meinem Rausch zu erzählen, während ich auf der Messe eine Online-Ambulanz für internetsüchtige Menschen vorgestellt habe, die süchtig nach dem Leben in virtuellen Welten sind. Mag pathetisch klingen, aber ich habe in die Zukunft gesehen, allerdings auch in die der Internetabhängigkeit. Wirklichkeit Spielen, in echt jetzt weiterlesen

Spielverderben

Passend zur Gamescom steigt die Zahl der abhängigen Gamer in unserer Ambulanz mal wieder an. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neuer Patient wegen einer Computerspielsucht oder dessen verzweifelte Angehörige bei uns vorstellig werden. Da kann man schon mal wütend werden auf das Gaming und die Industrie, die damit ein Milliardengeschäft macht. – Nur dass keine Missverständnisse aufkommen, ich habe grundsätzlich nichts gegen Computerspiele. Bin selbst schon mit ihnen groß geworden: Pong, Atari, C64, you name it. Um auf dem Stand zu bleiben, spiele ich auch heute noch, mal gezielt und mal nur so zum Spaß. Mein Verständnis für den Reiz der Spiele kommt mit Pokémon GO allerdings gerade an seine Grenzen, wenn ich vor die Tür gehe und erwachsene Menschen dabei beobachte, wie sie im Straßenverkehr und in Parks virtuelle Monster fangen. Das ist doch eine infantile Mischung aus Fangen Spielen und Panini-Bildchen Sammeln. Längst haben sich im Zusammenhang mit solchen Smartphone-Spielchen Unfälle mit lebensgefährlichen und sogar tödlichen Folgen ereignet. Spielverderben weiterlesen

Tinder Dir (K)eine(n)

Melde mich aus dem abgeblasenen Sommerloch mit einem unpolitischen Thema zurück. Sexualität geht immer. Immerhin beziehe ich mich auf eine US-amerikanische Studie, die darauf hindeutet, dass junge Erwachsene immer weniger Sex haben. (Das dürfte noch nichts damit zu tun haben, dass mit den Obamas so oder so nun erst einmal jeglicher jugendliche Sexappeal aus dem Weißen Haus ausziehen wird.) Es wurde die Frage augefworfen, ob nicht das Rendez-Vous im Zeitalter seiner technologischen Reproduzierbarkeit gerade durch den Einsatz von Dating-Apps in seiner letzten sexuellen Konsequenz eher behindert als gefördert wird. Der Begriff Disruption gewinnt in diesem Geschäftsfeld eine ziemlich ambivalente Dimension. Beim Thema Sex scheinen die Algorhythmen jedenfalls noch nicht flächendeckend zu erotischen Eruptionen zu führen. Dass die Menschen durch die digitale Kuppelei zwar weniger, aber dafür aber besseren Sex haben, erscheint mir als eher unwahrscheinlich. Tinder Dir (K)eine(n) weiterlesen